Durch einen Eintrag im Geburtsregister wird der Zeitpunkt unserer weltlichen Ankunft vermerkt und wenn wir diese Welt wieder verlassen, dann hält die Sterbeurkunde diesen Moment fest. Dies sind die uns traditionell vermittelten bürokratischen Vorstellungen von Leben und Tod – ein binäres Konzept. Wir existieren sobald wie den Bauch unserer Mutter verlassen und mit dem letzten Herzschlag ist unsere Existenz beendet, ganz so, als wenn das Leben mit einer Art An-/Aus-Schalter verbunden wäre. Wissenschaftlich betrachtet gibt es jedoch zunehmend Hinweise darauf, dass es sich hierbei um eine nicht ganz zutreffende Sichtweise handelt. Ebenso wie eine neuronale Existenz vor der Geburt vorhanden ist, ist das Sterben ein Prozess, bei dem es keine klare Grenze gibt, die, sobald man sie überschritten hat, keinen Rückweg mehr zulässt.
Sollte sich das durchsetzen, was Prof. Sam Parnia, verantwortlicher Chefarzt für Intensivpflege und Reanimationsforschung an der New Yorker Langone Health University festgestellt hat, könnten die Auswirkungen für die Lebenden tiefgreifend sein (Siehe hierzu auch diesen Artikel!) Er und andere Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass das Gehirn einen erstaunliche hohen Sauerstoffmangel überleben kann. Dies könnte bedeuten, dass das Zeitfenster, welches Ärzten zur Verfügung steht, um den Sterbeprozess umzukehren, zukünftig verlängert werden könnte. Um diesen Fortschritt zu erreichen, müssten wir jedoch unsere Vorstellungen von Leben und Tod neu überdenken, so Parnia.
Statt das Ableben als ein unumkehrbares Ereignis zu betrachten, von dem es kein Zurück gibt, sollten wir es als einen Prozess des Sauerstoffmangels sehen, der zum Tode führt, wenn er zu lange dauert oder medizinische Maßnahmen versagen. Die rechtlichen wie biologischen Definitionen des Todes beziehen sich üblicherweise auf den „irreversiblen Abbruch“ lebenserhaltender Prozesse durch Herz, Lunge und Gehirn, wobei das Herz oft als der entscheidende Faktor betrachtet wird. Stoppt der Herzschlag, bedeutete das bis vor ein paar Jahrzehnten stets einen unwiderruflichen Zustand. Doch das änderte sich um 1960 mit der Entwicklung der Herz-Lungen-Wiederbelebung. Einst als eine Art Wunder betrachtet, ist es heute üblich, Menschen manuell oder via Defibrillator zu reanimieren und Herzen wieder zum Schlagen zu bringen. Gelang dies nicht, markierte der Begriff „Herzstillstand“ eine klare Unterscheidung zwischen dem vorübergehenden Verlust der Herzfunktion und dem endgültigen Lebensende.
Gleichwohl spielte die Versorgung des Blutkreislaufs mit Sauerstoff eine wichtige Rolle. War dieser nicht genügend vorhanden, mussten Ärzte in vielen Fällen starke Schädigungen des Gehirnswebe diagnostiziren und feststellen, dass Beatmungsgeräte im Grunde genommen nur noch einen „lebenden Körper mit schlagendem Herzen“ verwalteten, der ein totes Gehirn besitzt, wie es beispielsweise Christof Koch, Neurowissenschaftler am Allen Institute in Seattle, beschrieb. Allerdings sei „das sterbende Gehirn ein sehr, sehr komplexes Phänomen“, so Charlotte Martial, Neurowissenschaftlerin an der Universität Lüttich. Bisher sei die Medizin davon ausgegangen, dass das Gehirn bereits Schaden nimmt, wenn es Minuten lang von der Sauerstoffzufuhr abgeschnitten ist. Diese Annahme sei zwar nach wie vor weit verbreitet, aber man dürfe sich ernsthaft fragen: „Warum sollte unser Gehirn von der Natur so anfällig konstruiert sein?“ Und die Forschungen von Prof. Parnia und anderen Hirnforschern scheinen sie zu bestätigen.
Im Jahr 2022 veröffentlichten Bioethiker an der Universität Yale in einem Artikel der Zeitschrift Nature, dass es ihnen gelungen war, viele Funktionen verschiedener Organe bei Schweinen wiederherzustellen, die bereits seit einer Stunde tot waren – einschließlich des Gehirns und des Herzens. Sie setzten das Experiment sechs Stunden lang fort und die zuvor ‚toten‘ Tiere hatten wieder einen Blutkreislauf und zahlreiche wichtige Zellfunktionen waren aktiv. „Unsere Studien haben belegt, dass die Grenze zwischen Leben und Tod nicht so eindeutig ist, wie wir einst dachten“, sagt der Nenad Sestan, Neurowissenschaftler und Hauptautor der Studie. Der Tod „braucht länger als wir dachten, und zumindest einige der Prozesse konnten aufgehalten und umgekehrt werden“, sagt Sestan.
Andere Studien an menschlichen Probannten hatten zuvor ergeben, dass das zentrale Denkorgan besser als gedacht mit Sauerstoffmangel umgehen kann, wenn das Herz aufhört zu schlagen. „Aus Gründen, die wir nicht verstehen, ist das Gehirn zumindest für einige Minuten hyperaktiv“, so Prof. Parnia. „Es scheint in einigen Fällen eine Art paradoxer Überspannung zu geben, sobald dem Gehirn der Sauerstoff entzogen wird“, so der Experte. Natürlich müsse jedes Lebewesen irgendwann sterben und sei dann auch nicht mehr zu retten. Aber ein genaueres Verständnis des Sterbeprozesses könnte es der Medizin ermöglichen, Menschen zu retten, die zuvor gesund waren und unerwartet früh verstorben sind – solange ihr Körper noch relativ intakt ist. Das könnten Personen sein, die einen Herzinfarkt erlitten haben, starken Blutverlust erlitten haben, erstickt oder ertrunken sind. Die Tatsache, dass viele dieser Menschen sterben – und tot bleiben – spiegelt laut Parnia einfach „einen Mangel an angemessenen Ressourcen, medizinischem Wissen oder ausreichendem wissenschaftlichen Fortschritt, um sie wiederzubeleben“.