Gehirn-genial erklärt: Pro und Kontra „Mentale Selbstdiagnose“

Heutzutage sprechen immer mehr Menschen weltweit offen über psychische Herausforderungen wie ADHS, Bore- bzw. Burn-Out, Ängsten und Depression oder beschäftigen sich intensiv damit, auch in Form von Online-Suchen. Studien haben gezeigt, dass sich in unserem Land noch nie so viele Menschen damit beschäftigen, wie es um ihre seelische Gesundheit steht. Diese Entwicklung spiegelt ein neues Bewusstsein für die eigene mentale Verfassung wider.

Laut der DGPPN, die ist die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, waren im vergangenen Jahr in der Bundesrepublik mehr als vier Mio. Menschen in psychotherapeutischer Behandlung und auch die Statistiken der deutschen Krankenkassen zeigen einen erheblichen Anstieg von Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen. Im Vergleich zu Zeit Mitte der 2010er Jahre haben sich diese Fälle sogar verdoppelt, wie beispielweise ein DAK-Psycho-Report zeigt. Häufigste Ursache für Krankschreibungen sind demnach Depressionen, gefolgt von Anpassungs- und Belastungsreaktionen. Besonders auffällig ist hierbei der Anstieg von Fehltagen bei jungen Erwachsenen, doch sogar Jugendliche sind betroffen: Jede/r Vierte hat psychische Probleme, und elf Prozent der Jugendlichen gaben an, sich in Behandlung zu befinden.

Obwohl es gefühlt erscheint, als sei eine ganze Nation rund um die Uhr mit ihren psychischen Problemen beschäftigt, scheint ein genauerer Blick sinnvoll. Die festzustellende Entwicklung ist vor allem angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Situation nicht überraschend: Wir alle haben eine Pandemie hinter uns, in Europa und im Nahen Osten herrscht Krieg, und in der Politik wird fast täglich über Waffenlieferungen und unsere Sicherheit diskutiert. Extremistische Bewegungen gewinnen an Einfluss, Einzeltäter töten in aller Öffentlichkeit und Naturkatastrophen fordern ihren Tribut – auch und gerade wegen des Klimawandels – es gibt Finanzkrisen und die Renten sind langfristig unterfinanziert. Unsere Gegenwart ist voller Herausforderungen, die die Menschen verunsichern, rechte und linke Parteien ohne echte Lösungskonzepte werden nicht müde das Versagen der Politik anzusprechen. Da wäre es doch nicht normal, nicht normal zu sein – oder?

In meinen Gesprächen als Zukunfts.Coach hilft es meinen Klienten vor allem, zu verstehen, dass sie weder verrückt noch gestört sind, denn mentale Erkrankungen sind Versuche des Körpers, mit den Herausforderungen der Umgebung umzugehen, wie schon Siegmund FREUD vor rund 150 Jahren erkannte. Doch psychische Störungen entstehen in aller Regel durch eine Vielzahl von Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen. Dazu gehören biologische, psychische und soziale Aspekte. In der Genforschung wird oft eine biologische Grundlage für viele psychische Probleme angenommen, aber Umwelteinflüsse spielen ebenso eine entscheidende Rolle beim Ausbruch von mentalen Krankheiten. Ungünstige Erfahrungen im Leben zeigen Menschen ihre Verwundbarkeit, sprich: die Anfälligkeit für psychische Probleme, und essentiell negative Lebensereignisse, sogenannte Stressoren, begünstigen die Entstehung mentaler Erkrankungen. Die internationale Klassifikation psychischer Störungen beschreibt Abweichungen von der Norm, als „neurodivers“, bezeichnet sie einfacher ausgedrückt als „anders“. Zur Neurodiversität zählen jedoch nicht nur psychische Leiden, sondern auch persönliche Eigenschaften wie Impulsivität, Schüchternheit oder hohe Intelligenz. Andersartigkeit von „der Norm“ zu sein, ist daher bei jedem Einzelnen von uns unterschiedlich stark ausgeprägt.

Die heutige Zeit hat jedoch bei Menschen auch die Unart ausgeprägt, wissenschaftliche Begriffe falsch pseudo-wissenschaftlich zu nutzen. So wird beispielsweise ein Mitmensch, der sich anderen gegenüber in verletzender Art und Weise äußert als „toxisch“ beschrieben. Statt, dass man sich einfach beruhigt, also zur Ruhe kommt, sprechen einige davon, ihre Gefühle zu „regulieren“ und wenn Dinge oder Abläufe negative Gefühle auslösen, dann hört man Menschen immer wieder sagen, sie seien „getriggert“, doch gerade dieses Wort stammt aus dem Traumawortschatz und hat nichts mit den sog. „Schaltern im Kopf“ zu tun.

Es wirkt manchmal so, als wollten wir durch psychologische Fachbegriffe unsere Wahrnehmung wissenschaftlicher oder reflektierter erscheinen lassen. Aber bereits ein so einfacher Begriff wie „rechts“ lässt sich (im Politikkontext verwendet) lässt sich nicht allgemein gültig nutzen und zeigt, wie die tatsächliche Bedeutung von Begriffen stark variieren kann. Das sollte einem stets bewusst sein, denn Selbstdiagnosen können schlicht falsch sein.

Einige meiner Klient:innen erzählen mir von Diagnosen, die selbst erstellt wurden, die sie aber noch keinem Mediziner anvertraut haben: sie haben sie sich nach dem Besuch von Facebook, Instagram oder TikTok angeheftet, wie ein neues stylisches Modestück. Denn interessante Selbstdiagnosen können durchaus identitätsstiftend wirken, schaffen ein Gefühl der Zugehörigkeit oder helfen, sich von anderen abzugrenzen. Merke: Selbstwahrnehmung und Identität sind stark mit unseren Gefühlen verknüpft. Was wir fühlen, ist ein ganz individueller, einzigartiger Prozess. Indem wir unser eigenes Mental-Universum im Kopf erkunden, denken wir, zu Experten unserer selbst werden, und das gibt uns Halt – auch wenn dieser Halt oft instabil ist. Das gilt im Übrigen auch für die Situation der völligen Selbstüberchätzung (DUNNING-KRUGER Effekt / „Wenn nicht ich, wer dann?“) Deshalb ist es von enormer Wichtigkeit, sich in einer Zeit, in der traditionelle Lebenswege nicht mehr festgelegt sind, professionelle Unterstützung zu suchen und nicht den Weg aus echten oder vermeintlichen mentalen Herausforderungen selbst zu wählen.

Emotionssoziologen wissen heutzutage nicht genau, wie sich mentale Probleme für Menschen angefühlt haben, bevor es Experten für diese Gefühle und deren Erkenntnisse bzw. Fachbegriffe gab. Schon Minnesänger haben beispielweise Liebe und Herzschmerz sehr emotional ausgedrückt, doch muss man davon ausgehen, dass die Menschen im 13. Jahrhundert dies recht unterschiedlich von dem empfunden haben, was wir heute darunter verstehen. Was Forschende jedoch belegen können, ist, dass die Fähigkeit, über die eigenen Emotionen nachzudenken – also die emotionale Reflexivität – in den letzten Jahrhunderten stetig zugenommen hat. Und unsere Ein- bzw. Unterteilung von mentalen Zuständen hat sich ebenfalls verändert. So kann es neben „normalen“ Aggressionen auch Mikroaggressionen geben, ebenso unterscheidet die Wissenschaft inzwischen sowie zwischen Traumata und Mikrotraumata. So spricht die amerikanische Psychologin Meg ARROL in ihrem Buch „Wenn sich nichts mehr richtig anfühlt“ über ganz alltägliche psychische Probleme – wie einen cholerischen Vorgesetzten, starken Leistungssdruck oder Stress in der Partnerschaft –, die sie als „kleine Traumata“ bezeichnet, im Gegensatz zu den katastrophalen Ereignissen in einem Leben, die eigentlich als ein Trauma auslösend geführt werden. Arrol argumentiert, dass selbst kleinen Belastungen zu mentalen Gesundheitsproblemen beitragen.

Fazit: Die Grenzen für das, was uns als belastend gilt, haben sich verschoben. Heute steht die eigene Verwundbarkeit im Vordergrund und prägt unser Verständnis von psychischer Gesundheit, wobei in den Sozialen Medien suggeriert wird: Als gesund gilt, wer seine Emotionen wahrnimmt und annimmt. Doch weil eben psychische Leiden auch soziale Leiden sind und es die Medien schaffen uns rund um die Uhr berichten, was auf der Welt alles schiefgehen kann, werden mentale Probleme nicht einfach durch Hilfe aus dem Internet beseitigt. Bei Krankheiten oder äußeren Verletzungen unseres Körpers setzt ja auch kaum ein Mensch auf Ratschläge aus dem World Wide Web, sondern sucht sich ärztliche Hilfe. Denn obwohl es richtig und wichtig ist, sich selbst zu (er)kennen, wird, wie zufrieden oder glücklich wir uns fühlen, stark von den kollektiven Gefühlen in unserer Gesellschaft beeinflusst.

Als überwiegend positiv denkender Mensch hoffe ich, dass wir eines Tages auf die heutige Zeit zurückblicken können, als eine, in der mentale Besonderheiten zunehmend von ihrem Stigma befreit wurden, was für Betroffene eine große Erleichterung war – eine Ära, in der seelische Leiden so sichtbar wurden wie heutzutage Herzfehler nach einem Magnetresonanztomographie-Check.

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