„Ich das nicht ungerecht?“ denken manche Eltern und meinen ihr jüngstes Kind, das bei seiner Einschulung bereits erste Sätze lesen kann, einfache Rechenoperationen beherrscht, aufgeschlossen und leicht zu motivieren ist, dazu auch noch wissbegierig, fleißig und fokussiert erscheint, wohingegen es ihrem anderen Sprössling trotz der dritten Klasse immer noch immer schwerfällt, sich flüssig zu artikulieren. Es macht im Unterricht nur mäßige Fortschritte, wirkt unruhig, führt Projekte nicht zu Ende, entwickelt keine Freude am Lernen und der Altersunterschied zu Kind 1 schient täglich zu abzuschmelzen.
Es überrascht kaum, dass die Eltern befürchten, ihr älters Kind könnte nicht intelligent oder begabt genug sein, um in der Schule gute Leistungen zu erbringen – mit negativen Konsequenzen für den gesamten weiteren Lebensweg. Sie gehen von der Ansicht aus, dass außergewöhnlich intelligente Menschen ein Leben lang in vielerlei Hinsicht Vorteile haben. Studien belegen sogar, dass sie angesehene Berufe ausüben werden, höhere Einkommen haben und in stabileren sozialen Verhältnissen leben. Ein hoher Intellekt ist folglich das, was sich Eltern für all ihre Töchter und Söhne meist sehnlichst wünschen. Aber wer ein Ziel ohne Plan fokussiert, dem bleibt am Ende leidiglich der Wunsch.
heißt: Vielen Eltern ist häufig gar nicht klar, wovon die mentale Entwicklung ihres Nachwuchses überhaupt abhängt. Nicht wenige Väter und Mütter teilen der Ansicht, dass intellektuelle Fähigkeiten ausschließlich naturgegeben sind, gleichsam schicksalhaft verteilt, sodass manche Kinder mit besserem geistigen Rüstzeug auf die Welt kommen als andere. Doch dies ist ein Irrtum. Zwar stimmt es, dass Kinder durchaus unterschiedliche genetische Startvoraussetzungen mit in diese Welt bringen, aber es ist ebenso wahr, dass die Natur hier eine Menge Gestaltungsmöglichkeiten parat hält. Welches Maß an Verstandeskraft, Lern- und Wissbegierig, Fleiß und Fokussierung ein Mensch ganz individuell entfaltet – und damit auch: welchen Bildungsabschluss er später erzielt –, hängt ganz entscheidend davon ab, wie er aufwächst, welche Zuwendung er von seinem familiären Umfeld erhält und selbstverständlich welche Art der Förderung ihm zuteil wird.
Bei den Tipps für Eltern bezüglich dieser Aspekte hat die Hirnforschung im 21. Jahrhundert bedeutende Fortschritte erzielt. Neurobiologen besitzen inzwischen ein genaues Verständnis davon, was sich hinter dem Phänomen Intelligenz verbirgt, wie diese identifiziert und gezielt gefördert werden kann und welchen Einfluss genetische Faktoren sowie Umweltbedingungen auf die Entwicklung des Verstandes ausüben. Verschiedenste Studien geben zugleich Aufschluss darüber, welche Voraussetzungen ein Kind mitbringen muss, um in der Schule gute Leistungen zu erzielen. Denn Intelligenz allein macht aus einer Schülerin oder einem Schüler ja nicht automatisch einen Abiturienten. Neben der Gabe, Probleme rasch zu erkennen und zu lösen, abstrakt denken und aus eigener Anschauung lernen zu können – so die gängige Definition von Intelligenz –, sind zwei weitere Faktoren für schulischen Erfolg maßgeblich: Es sind dies Motivation und Fleiß. Im Umkehrschluss heißt dies: niemand wird als hochmotiviertes, diszipliniertes und tüchtiges Kind geboren.
Nicht nur von Vera F. Birkenbihl wissen wir, dann kein Schulkind, und sei es noch so scharfsinnig, dem Unterricht mit Enthusiasmus folgt, wenn der Lernstoff „trocken“ präsentiert wird. Spaß am Lernen ist eine Top-Motivation, dazu die richtigen gehirn-genialen Lernmethoden gekoppelt mit der eigenen Erfahrung, dass man beim Lernen aufmerksam und ausdauernd sein muss – das alles sind Intelligenz-Booster. Aber das ist nicht das Einzige, was wichtig ist: Gerade in den ersten Lebensjahren ist es für ein Kind von entscheidender Bedeutung, dass es Liebe und Zuwendung aus dem familiären Umfeld erfährt und in einem Umfeld aufwächst, in dem es sich sicher und angstfrei fühlen kann. Nur unter solchen Bedingungen, also einer Situation, die von Geborgenheit und Fürsorge geprägt ist, kann sich der Verstand eines Kindes optimal entwickeln.
Außerdem führt jedes Austesten von Grenzen (auch das Setzen von Grenzen durch die Eltern) für das Kind zu Erfahrungen bzw. „Aha“-Erlebnissen, die im heranreifenden Gehirn zahlreiche Synapsen zwischen den Nervenzellen bilden. Das Ergebnis ist ein zunehmend effizienter arbeitendes Netzwerk von Nervenzellen und damit eine wichtige Grundlage für die spätere kognitive Leistungsfähigkeit. Studien belegen, dass sich Heranwachsende, deren Gehirn in der Kleinkindphase gelernt hat, Nervenzellen besonders gut zu verknüpfen, sich beispielsweise durch sehr gute Gedächtnisleistungen auszeichnen. Sie können Wissen verlässlicher speichern und einfacher auf Daten und Fakten zugreifen als andere. Zudem fällt es ihnen leichter, sich von ungünstigen Bedingungen – etwa dem Lärmpegel einer großen Klasse – beim Lernen nicht so schnell ablenken zu lassen.
Aber Hirnforscher raten Eltern auch zur Vorsicht: Obwohl es manchem naheliegend scheint, Kinder bereits in ihren ersten drei Lebensjahren pädagogisch gezielt zu fördern – sie etwa mit anspruchsvollen mathematischen Aufgaben zu konfrontieren oder zum Spielen eines Musikinstruments zu animieren – ist dieses Vorgehen aus neurobiologischer Sicht wenig ratsam. Im Gegenteil: Der übereifrige Einsatz vieler Eltern kann sogar schädlich sein. Gerade als Kleinkind sollten Mädchen und Jungen spielerisch und ohne Anstrengung lernen können. Stress und Überforderung – beispielsweise durch übertriebene Stimulation – haben eher negative Auswirkungen auf die weitere geistige Entwicklung. Für weitaus wirkungsvoller wird eine vergleichsweise einfache Methode der geistigen Frühförderung gehalten: Kommunikation.
Denn die Forschung zeigt immer deutlicher, dass Sprache ein außerordentlicher Intelligenzverstärker ist und einer der wichtigsten Faktoren für die kognitive Entwicklung überhaupt. Es gibt nachweislich eine hohe Korrelation zwischen der späteren Intelligenz eines Menschen und dem Maß, in dem Eltern in der frühen Kindheit mit ihm gesprochen haben. Die Fähigkeit, Wörter zu verstehen und selber zu sprechen, weitet den geistigen Horizont eines Kindes beträchtlich. Wer nun besorgt ist, dass hier Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung große Nachteile haben, weil sie vielleicht mit drei oder vier Jahren aufgrund ihrer Erkrankung noch nicht sprechen können, der liegt zwar grundsätzlich richtig, aber auch hier gibt es inzwischen ein Vielzahl von Fördermöglichkeiten und Methoden. Zu beachten ist aber, dass – egal bei welchem Kind – das Niveau, auf dem die erwachsenen Familienmitglieder sich ausdrücken und mit dem Nachwuchs reden, direkt die Qualität des Denkens bestimmen. Mädchen wie Jungen profitieren hierbei sehr davon, wenn ihre Eltern, aus einem reichen Wortschatz schöpfend kommunizieren.
Fazit: Die Intelligenz eines Menschen ist in vielen seiner Lebensaspekte wichtig, jedoch kein allein ausschlaggebendes Kriterium für Erfolg. Viele Koryphäen und geistige Ausnahmetalente waren zar intelligent, aber zudem überdurchschnittlich intrinsisch motiviert, verbrachten mehr Zeit mit Lernen, beschäftigten sich beharrlicher mit ihrem Fach als andere Menschen. Außerdem hatte sie mehr unterschiedliche Interessen als diese, legten bei der Berufswahl stärker Wert darauf, eigene Kompetenzen zu entfalten oder geistig unabhängig zu sein. Fraglos ist die intellektuelle Förderung von Kindern und Heranwachsenden ein anstrengender aber lohnender Kraftakt, bei dem sich Eltern wie Erzieher immer wieder und immer wieder neu um „ihre“ Jungen und Mädchen kümmern müssen, sie anspornen, mit ihnen sprechen, ihr Lerninteressen unterstützen und sie durch interessante Präsentationen dazu anhalten, das Wissen zu vergrößern. Denn nur so schaffen sie die Grundvoraussetzung dafür, dass jedes Kind mindestens die Chance erhält, seine geistigen Möglichkeiten gehirn-genial auszuschöpfen.