Als Charles Pierce und Joseph Jastrow ab 1884 versuchten, die Grenzen menschlicher Wahrnehmung zu definieren, entdeckten sie etwas unerwartetes: die Grenzen unserer Einsicht in uns selbst. Sie fanden heraus, dass die Probant:innen ihrer Experimente systematisch die eigenen Fähigkeiten unterschätzten, ihre eigenen Empfindungen richtig einzuordnen, was Pierce und Jastrow anfangs als „bestimmte telepathische Phänomene“ inteprtierten. Solche Implikationen wurden im 20. Jahrhundert glücklicherweise fallengelassen, doch in den späten 1970er Jahren entwickelte sich der Ansatz, Freiwillige Versuchsteilnehmer:innen zu bitten, ihre eigene Leistungen und Fähigkeiten zu bewerten, zu einer eigenen Disziplin der Hirnforschung: die sog. „Metakognition“.
Im Großen und Ganzen ermöglicht diese Fähigkeit zur Selbstreflexion und zum Nachdenken über eigene Gedanken, Menschen entsprechend dem heutigen Stand der Neurowissenschaft mehr oder weniger Vertrauen in eigene Entscheidungen zu haben. Heißt: man lernt, entschlossen zu handeln, wenn man sicher ist, eine gute Entscheidung zu treffen, oder eben vorsichtiger zu entscheiden, wenn wir das Gefühl haben, dass eine Entscheidung negative Folgen mit sich ziehen könnte. Dies betrifft alle Aspekte unseres Verhaltens, von langfristigen abstrakten Visionen (wie der Definition unserer Lebensziele) bis hin zu spontanem Handeln aufgrund dessen, was wir sehen, hören, riechen, schmecken oder berühren.
Natürlich sind nicht alle Menschen „gut“ (oder fühlen sich wohl) in der Metakognition. Einige neigen im Allgemeinen zu überhöhter Selbstsicherheit, andere sind in der Regel nicht besonders SELBST-BEWUSST und viele von uns sind gelegentlich immer noch sehr zuversichtlich, selbst wenn sie sich bewusst sind, dass eine getroffene Entscheidung aller Wahrscheinlichkeit nach negative Konsequenzen nach sich ziehen wird. Neurowissenschaftlich erwiesen ist, dass sich 1.) die Metakognition im Laufe der Kindheit und Jugend entwickelt, und 2.) eine fehlerhafte Metakognition mit unterschiedlichen psychischen Störungen in Zusammenhang stehen kann. Deshalb wurden pädagogische Instrumente und Behandlungen entwickeln, um Metakognition zu verbessern. Aber es gibt auch Ansätze, Metakognition durch Entraining der Gehirnwellen (wie beispielsweise impulsgebende neuronale Schwingungen) zu verbessern, also hierfür mentale Entspannungstechnologien zu nutzen.
Aber versteht die Neurowissenschaft tatsächlich, wie Metakognition funktioniert? Wie sollte unser Geist sich selbst, sozusagen aus einer Außensicht heraus, neutral betrachten können? Hier der Stand der Forschung: Um über die eigenen Gedanken nachzudenken, muss unser Gehirn gedanklich effektiv auf sich selbst schauen. Praktisch ausgedrückt kommen einige Milliarden Neuronen in unserem Oberstübchen zusammen, um einen Gedanken, ein Gefühl oder eine Handlung zu interpretieren bzw. ausführen. Alle Gehirnprozesse werden in aller Regel ohnehin von einer gesonderten „Instanz“ unseres Gehirn relativ neutral ausgewertet und überwacht, wodurch Metakognition entsteht. Die alles entscheidende Frage ist jedoch: Wie geht das?
Das Forscher:innen-Trio Tarryn Balsdon, Pascal Mamassian und Valentin Wyart untersuche im Pariser Laboratoire de Neurosciences Cognitives et Computationnelles Metakognition in ihrer grundlegendsten Form. Dabei verwendeten sie ähnliche Methoden wie einst Pierce und Jastrow und zeigten den Probant:innen in einem typischen Experiment ein Foto und baten sie, eine schnelle Entscheidung darüber zu treffen, was sie gerade sehen, und bewerteten anschließene, wie sicher sie sich waren, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Beispielswiese war eine fast vertikale Linie zu sehen und es musste eingeschätzt werden, ob sie nach links oder rechts geneigt ist. Sobald man sich sicher fühlte, das „richtige“ Gefühl zu haben, traf er seine Wahl. Balsdon, Mamassian und Wyart definierten dies gegenüber den Teilnehmer:innen der Studie einen „Entscheidungsbeweis“, ganz so, als wenn in einem Gericht eine Jury darüber entscheidet, ob genügend Beweise für die Verurteilung eines Kriminellen vorliegen würden. Sobald also genügend Beweise für eine sichere Entscheidung vorlagen, sollte entschiedne werden.
Pascal Mamassian: „Dies stellt tatsächlich ein großes Problem dar, wenn es darum geht, zu untersuchen, was im Gehirn passiert, wenn sich Menschen mehr oder weniger sicher fühlen, denn ein Unterschied im Selbstvertrauen ist auch ein Unterschied in der Entscheidungsevidenz. Wenn wir einen Unterschied in der Gehirnaktivität zwischen hohem und niedrigem Vertrauen feststellen, könnte dies tatsächlich auf mehr oder weniger Beweise zurückzuführen sein (die Linie wird stärker oder weniger geneigt wahrgenommen). Als Ergebnis unserer Forschungsarbeit müssen wir die Gehirnaktivität, die mit dem Prozess der Beurteilung der Neigung der Linie zusammenhängt, von der Gehirnaktivität, die damit zusammenhängt, dass man sich bei der Beurteilung dieser Neigung sicher fühlt, trennen.“ Man habe daraufhin einen Weg gefunden, zwischen diesen Prozessen zu unterscheiden, indem sie zeitlich getrennt bewertet wurden. In dem Nachfolge-Experiment wurde die Gehirnaktivität der Probant:innen gemessen, während diese Entscheidungen über eine lange Folge von nacheinander gezeigten Bildern trafen.
Man habe so sehen können, was im Gehirn passiert, während die Teilnehmer die Bilder betrachteten und ihre Entscheidung trafen. Manchmal legten die Teilnehmer ihre Entscheidung fest, bevor alle Bilder gezeigt worden waren. In diesem Fall kam es zu einem Stillstand der Aktivitäten im Zusammenhang mit der Entscheidungsfindung; einige andere Aktivitäten gingen jedoch weiter. Auch wenn die Teilnehmer:innen ihre Entscheidung früh trafen, überprüften sie dennoch die zusätzlichen Bilder und nutzten diese, um ihr Selbstvertrauen zu bewerten. In diesen Fällen war die Gehirnaktivität für die Entscheidungsfindung bereits beendet und konnte daher nicht mit der Aktivität des Hirnareals für das Selbstvertrauen verwechselt werden. Dies wiederum führte zu einer neuen Frage im Zusammenhang mit der Selbstbetrachtung des Gehirns: Wann findet sie statt?
Die Standardsicht der Wissenschaft besteht darin, dass Menschen zuerst Ihre Entscheidung treffen und dann prüfen, wie sicher sie sich damit fühlen – also: „Zuerst denken wir und dann erst denken wir über das Denken nach.“ Balsdon, Mamassian und Wyart sind jedoch der Ansicht, dass sich Selbstvertrauen über eine Entscheidung bereits entwickelt hatte (und genutzt wurde), bevor die Probant:innen ihre Entscheidung trafen. Ganz so, als würde ein Bauer seine Gesamtzahl an Hühnern bereits wissen, bevor alle Kücken geschlüpft sind. Da unser Gehirn jedoch die effizienteste Intelligenz ist, den wir kennen, wäre es ungewöhnlich anzunehmen, dass es etwas derart Unnötiges tun würde, ohne dass ein Sinn dahinter steckt. Also liegt es nahe, davon auszugehen, dass die Metakognition eine große Rolle bei der Einschätzung unserer zukünftigen Verhaltensmuster spielt: Später im Leben folgenden Handlungen werden davon beeinflusst, wie sicher wir in unseren Entscheidungen, Gedanken und Gefühlen sind; das ist bekannt. Aber offensichtlich nutzen wir auch unsere Erfahrzungen in die Sicherheit unseres Selbstvertrauens, um in der Zukunft verbesserte Entscheidungenzu treffen.
Aber entsprechend der Pariser Studie gibt es noch eine weitere Option: Wir könnten unser Vertrauen in uns selbst nutzen, während wir darüber nachdenken, ob wir nach weiteren Beweisen suchen sollten, um uns auf eine Entscheidung festzulegen. Die Studie von Tarryn Balsdon, Pascal Mamassian und Valentin Wyart deutet darauf hin, dass sich unser Geist ständig selbst beobachtet, um seine Abläufe überwachen und bewerten könnte, womit das Gehirn seine Effizienz kontrollieren, sozusagen als ein System extremen Mikromanagements. Mehr als 130 Jahre nachdem Pierce und Jastrow erstmals die Rolle der Metakognition in Frage gestellt haben, gibt es immer noch überraschende Erkenntnisse über unsere Wege der Selbstreflexion, also über die erstaunliche Fähigkeit, uns selbst zu betrachten.
(aus: „FlexBrain – Das ultimative Handbuch“ von Rainer W. Sauer)